Im alltäglichen Leben kommen nur wenige Menschen in den Genuss Kunst an ihrem Arbeitsplatz aktiv zu erleben. In nicht kunstbezogenen Berufen ist es nicht unüblich Kunst an den Wänden, an den Arbeitsplätzen oder vielleicht auch nur in Fluren und Gemeinschaftsräumen zu haben. Es soll eine schönere Atmosphäre kreiert werden, in der sich Arbeitnehmer:innen wohlfühlen können und um ihre Kreativität sowie Produktivität anzuregen und zu steigern. Aber ist es nicht langweilig jeden Tag aufs Neue die gleiche Wand mit den gleichen Kunstwerken anzustarren? Das Kunstwerk könnte irgendwann als ein Teil der Wand wahrgenommen werden und könnte mit ihr verschmelzen. Es wird zur Normalität und zur Gewöhnung und der Reiz sowie der positive Effekt auf die Arbeit könnten nach der anfänglichen Steigerung der Produktivität, Kreativität und des Wohlbefindens wieder einen abfallenden Trend verfolgen.
Im ESSZIMMER habe ich eine andere Erfahrung gemacht. Während der Ausstellung All in One von Stephan Wittmer war der hintere Ausstellungsraum gleichzeitig unser Arbeitsplatz. Die Große Wand (Version Bonn) war mein täglicher Ausblick vom Laptop. Die atelier-inspirierte Atmosphäre mit einer großen orangen Plane, einem Malervlies, grünen Netzen, die denen einer Baustelle ähneln, gesammelte Stücke und Fotografien, die wirkten wie wild zusammengewürfelt, machte auf mich auf den ersten Blick einen etwas befremdlichen Eindruck. Es brauchte Zeit sich damit auseinander zu setzen und die Kunst dahinter auf mich wirken zu lassen. Durch das intensive Auseinandersetzen, wenn auch eher indirekt, hatte sich die Wand, die Kunst, zu einem vertrauten Ort entwickelt und das Abschweifen des Blicks vom digitalen Bild am Bildschirm auf das reale Bild des Raums wurde zu einer kurzen Pause für die Augen und die Gedanken. Bei jedem Blick empfand ich die Farben noch prächtiger und die Konstruktion in sich stimmiger. Die anfangs zusammenhanglos wirkende Wand wirkte auf einmal wie ein wunderschönes Bild, wo alle einzelnen Komponenten sich wie ein Puzzle zu einem großen Ganzen zusammenfügten und die Komposition schien nur mit allen einzelnen Komponenten vollständig zu sein.
In der Kunst zu arbeiten ist ein Privileg. Wir beschäftigen uns nicht nur mit der Kunst inhaltlich, sondern erfahren auch sehr viel über die Künstler:innen, lernen sie, ihre Arbeitsweise und Arbeitstechniken kennen. Bei Vernissagen und Finissagen dürfen wir die Künstler:innen persönlich kennenlernen und uns mit ihnen unterhalten. Dadurch taucht man viel tiefer in die Kunst ein und beschäftigt sich über den bloßen Anblick und die persönliche Interpretation der Kunst hinaus. Die Wand, die acht Stunden täglich unbewusst angestarrt wird ist auf einmal viel mehr als nur die Kunst an der Wand.
Nun sitzt nicht jeder acht Stunden am Tag, fünf Tage die Woche vor einer Wand mit der gleichen Kunst und kann sich bewusst und unterbewusst bei der Arbeit so ausgiebig damit beschäftigen, wie ich es konnte. Wir nehmen durch das rationale Arbeiten mit der Kunst als Objekt, was in den sozialen Netzwerken als Content zum Einsatz kommt oder das formale Beschreiben der Kunst sowie die möglichst neutrale Darstellung und Dokumentation einen anderen Blickwinkel ein. Wir versuchen die Kunst, die uns schon so vertraut ist, neutral zu sehen. Wir denken zurück an unsere erste Begegnung mit dem Werk um uns in die Betrachter:innen, die das Werk noch nie gesehen haben, hineinzuversetzen. Welche Eindrücke werden in der kurzen Zeit des Kunsterlebens wahrgenommen und welche Eindrücke könnten die Betrachter:innen erst auf den zweiten oder dritten Blick wahrnehmen? Worauf soll der Fokus gelegt werden, wenn wir Kunst fotografisch dokumentieren? Wir geben durch unsere intensive Auseinandersetzung den ein oder anderen Denkanstoß, ohne dabei zu viel vorweg zu nehmen.
Nach der Finissage war die Wand auf einmal leer und es machte mich etwas traurig. Ich wusste, dass ich diese Wand als Hintergrund, als Raum, als Farbklecks in meinen Augenwinkeln bei der Arbeit vermissen würde. Die steril wirkende, weiße Wand bietet nun wieder eine Fläche für etwas Neues. Platz für eine neue Ausstellung! Durch diesen kontinuierlichen Wechsel bleibt der Blick an die Wand interessant und es entsteht eine gewisse Dynamik in der Arbeitsatmosphäre. Es ist genug Zeit, um sich vollkommen mit der Kunst auseinander zu setzen aber nicht zu viel, dass es eintönig werden könnte. In und mit der Kunst zu arbeiten ermöglicht kontinuierliche Neugierde und die dauerhafte Konfrontation mit neuen, spannenden Unbekannten.